Der Libanon rutscht immer weiter ins Chaos. Stromausfälle, rasant steigende Preise und noch immer keine neue Regierung. Gefangen in diesem Durcheinander sind die syrischen Geflüchteten, für die es kein Vor und kein Zurück gibt. Mit unserem Elektro-Projekt versuchen wir zumindest ein bisschen Unterstützung zu leisten.
12.000, 15.000, 18.500, 22.000: In immer neue Höhen klettert der Wechselkurs des libanesischen Pfunds, also das, was man aufbringen muss, um den Gegenwert eines US-Dollars zu erhalten. Vor eineinhalb Jahren waren es noch stabile 1.500 Pfund, die man für einen Dollar zahlen musste. Durch den Kursverfall ist mittlerweile mehr als die Hälfte der libanesischen Bevölkerung in die Armut gerutscht, denn mit dem Wechselkurs steigen auch die Preise für lebenswichtige Güter. Die Gehälter hingegen stagnieren und zahlreiche Arbeitsplätze sind weggefallen.
Für die syrischen Geflüchteten ist es derweil noch dramatischer: Ihre informellen Jobs sind die ersten, die der Wirtschaftskrise zum Opfer fallen, während die Vereinten Nationen (UN) ihre Zuwendungen für die registrierten Syrer:innen weiterhin zu einem nur leicht angepassten niedrigen Wechselkurs von 3900 Pfund auszahlt. Somit ist die Kaufkraft der Geflüchteten rapide auf einen Bruchteil ihres einstigen Wertes gesunken.
Hinzu kommt, dass wichtige Medikamente im Land immer knapper werden, viele gar nicht mehr zu bekommen sind. Außerdem gehen die Treibstoffe und der Strom aus: Da ein wesentlicher Anteil des Stroms von Generatoren erzeugt wird, die Regierung jedoch ihre Rechnungen für die Treibstoffe nicht bezahlt, gibt es Strom nun nur noch stundenweise und unzuverlässig. Gleiches gilt für Benzin und Diesel: An den wenigen geöffneten Tankstellen stauen sich die Autos kilometerweit.
Die Wirtschaftskrise ist hausgemacht. Dabei gab es zumindest ein wenig Hoffnung, dass sich nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut etwas ändern würde. Ein Jahr später ist diese Hoffnung nun vollends verflogen. Nach dem Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Hassan Diab hat es die politische Klasse bis heute nicht geschafft, eine neue Regierung zu bilden. Immerhin gibt es jetzt einen neuen Kandidaten, den Milliardär Nadschib Mikati, der bereits zweimal zuvor Ministerpräsident war und daher alles andere als einen Neuanfang verkörpert.
Die mächtigen Familien und Parteien, die das Land seit dem Bürgerkrieg (1975-1990) fest in ihrer Hand halten und die verschiedenen Konfessionen repräsentieren, schachern um Einfluss und Positionen, während das Volk die Misere ausbaden muss. Jedes Hilfsangebot der internationalen Gemeinschaft wurde ausgeschlagen, da diese Angebote an politische Reformen geknüpft wurden. Doch die „Big Families“ klammern sich auch weiterhin an die Macht – der Verlust des uneingeschränkten Zugriffs auf staatliche Gelder würde Einschnitte bedeuten, zu denen sie offenbar nicht bereit sind. Der flehende Hilferuf des kommissarischen Premierministers Diab an die internationale Gemeinschaft, nicht das Volk für die Fehler der Elite leiden zu lassen, klingt vor diesem Hintergrund absurd.
Was machen die Menschen in dieser Situation? Viele junge und gutausgebildete Libanes:innen verlassen das Land, sofern dies in der Corona-Pandemie möglich ist und suchen ihr Glück in anderen Ländern. Andere gehen nun wieder einmal auf die Straße, blockieren Highways und zünden Autoreifen an. Diese Verzweiflungsproteste sind in den vergangenen Monaten immer mal wieder ausgebrochen, immer wieder aber auch schnell abgeebbt, sodass sie von den Eliten ausgesessen werden konnten. Die meisten Libanes:innen indes versuchen sich irgendwie über Wasser zu halten. Sie reduzieren ihre Mahlzeiten, lassen das Auto stehen, einige haben begonnen, selbst Gemüse anzubauen.
Und die syrischen Geflüchteten? Sie haben noch weniger Möglichkeiten, sich der Situation zu entziehen. Einige libanesische Landbesitzer:innen erhöhen die Miete für die Behausungen oder die Pacht für das Land, auf dem die syrischen Zelte stehen. Zudem sind viele Jobs im informellen Sektor weggefallen: An Tankstellen, in Geschäften, in den Steinbrüchen, auf dem Bau. Überall hier waren es vor allem Syrer:innen, die die Arbeit verrichtet haben, die nun aber aufgrund der Wirtschaftskrise nicht mehr gebraucht wird. Diejenigen, die es sich bisher noch leisten konnten, in Wohnungen oder Rohbauten zu leben, sind nun gezwungen, ebenfalls in Zelte umzuziehen. Doch hierfür braucht es staatliche Genehmigungen, die oft jedoch nicht ausgestellt werden. Die Syrer:innen stehen am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie und dies bekommen sie tagtäglich zu spüren. Mit jeder Zuspitzung der Krise, umso mehr.
Auch wenn der Strom nun nur noch wenige Stunden am Tag fließt, halten wir an unserem Elektro-Projekt fest. Mittlerweile sind es dreißig Camps, die wir mit neuen Elektroleitungen ausgestattet haben – vor allem, um Brände zu verhindern. Mehr als 3.000 Familien können in diesen Camps nun wieder ruhiger schlafen, denn noch immer brennt jede Woche irgendwo in Aarsal ein syrisches Zelt wegen der maroden alten Kabel ab. Auch bei den Umsiedlungen von Wohnungen und Rohbauten in neue Zelte unterstützen wir mit der Elektrik. Denn gerade jetzt, wo an allen Ecken und Enden gespart werden muss, sammeln sich die umgesiedelten Familien Kabelreste zusammen, verbinden sie notdürftig mit Isolierband und holen sich die Brandgefahr so direkt in ihr Zuhause.
Außerdem versuchen wir flexibel zu unterstützen, wo gerade Bedarf besteht: So haben wir in eine Physiotherapie-Praxis eine zweite Ebene eingezogen. Der Verein, der diese Praxis betreibt, kann nun in den neu entstandenen Räumen weitere Therapien für körperlich beeinträchtigte Kinder, Jugendliche und Erwachse anbieten.
Unser Elektriker-Team arbeitet unermüdlich in den Camps und so haben wir einen tiefen Einblick, was die Syrer*innen momentan bewegt. Der letzte Funken Hoffnung, doch irgendwann in die Heimat zurückkehren zu können, wird momentan von der Sorge ums tägliche Durchkommen und Durchhalten überlagert. Wurden wir sonst noch immer von den Campbewohner:innen zu einer gemeinsamen täglichen Mahlzeit eingeladen, so ist daran gegenwärtig nicht mehr zu denken. Die hohen Preise für Brot und Gemüse, die stark gestiegenen Preise für Wasser und Strom, mitunter auch für das Land oder das einzelne Zelt machen die Krise zu einer existenziellen. Vieles mussten die Syrer:innen in den vergangenen bis zu zehn Jahren erleiden, seitdem sie auf der Flucht vor der Gewalt des Asad-Regimes nach Aarsal gekommen sind – Diskriminierung und Rassismus, Übergriffe des Militärs, ein Überfall des selbsternannten IS, Ausbeutung durch libanesische Arbeitgeber:innen, Ausschluss ihrer Kinder von Bildung und schließlich Corona – doch nun verlieren viele den Glauben daran, wie es für sie überhaupt noch weitergehen soll.
Für uns gilt es, weiter vor Ort zu sein und praktisch Solidarität zu üben – mit Syrer:innen und Libanes:innen!
Simon Bethlehem