Unsere „Tischlern for Future“-Ausbildung im Libanon ist aufgrund der massiven Wirtschaftskrise eine echte Zukunftschance für viele Teilnehmer. Jetzt haben wir das Projekt erweitert.

Ein Teilnehmer an einer Werkbank

22. August 2021. Bildung und Ausbildung – im Libanon ist dies eigentlich immer großgeschrieben worden. Die Qualität der Schulen und Universitäten ist im Vergleich zu vielen anderen Ländern der arabischen Welt ausgezeichnet.

Im Libanon herrscht ein Selbstverständnis vor, dass ohne universitären Abschluss nichts zu erreichen sei. Die als niedere Jobs betrachteten Tätigkeiten auf dem Bau, in der Kinderbetreuung, bei Reinigung und Müllabfuhr oder in der Landwirtschaft wurden ohnehin schon lange von Migrant:innen oder Geflüchteten ausgeführt.

Doch seit dem Beginn der rasanten Wirtschaftskrise 2019 hat sich Vieles verändert. Auch viele gutbezahlte Jobs sind verloren gegangen. Und sind es heute eben nicht mehr nur die weniger betuchten oder privilegierten Gesellschaftsschichten, die wirtschaftliche Probleme haben, sondern gerade auch die gut ausgebildeten und Absolvent:innen der Elite-Hochschulen finden immer seltener eine bezahlte Anstellung. Von den syrischen Geflüchteten ganz zu schweigen.

Bedeutung des Handwerks nimmt wieder zu

Vernehmbar in dieser Situation ist immer mehr, dass das Handwerk wieder eine deutlich größere Wertschätzung erfährt. Lange Zeit war dies als mindere Tätigkeit im Libanon eher belächelt worden. Dass die Bedeutung wieder wächst, spüren wir nicht nur aufgrund des großen Zulaufs zu unseren „Tischlern for Future“-Kursen in Aarsal, sondern auch in Gesprächen mit Kolleg:innen anderer Organisationen.

Die Erklärung liegt auf der Hand: In einem Land, in dem die Banken kollabieren, das eines der höchstverschuldeten der gesamten Welt ist und das als zentraler Handelsplatz im Mittleren Osten immer mehr an Bedeutung verliert, bietet sich für handwerkliche Tätigkeiten mehr Arbeitsgelegenheiten als für klassische Büro-Tätigkeiten.

Im Tischlern for Future“-Projekt in Aarsal, in der nordöstlichen Bekaa-Ebene, bilden wir seit gut eineinhalb Jahren Syrer und Libanesen, jung und älter, im Tischlerhandwerk in unser eigens dafür gebauten Lehrwerkstatt aus. Hier trifft etwa der Sohn der stellvertretenden Bürgermeisterin des Ortes auf syrische Jugendliche. Das Interesse an unserer Ausbildung, die wir gemeinsam mit unserem Partner Edinburgh Direct Aid auf die Beine gestellt haben, ist riesig.

Wir kombinieren in den Kursen die klassischen handwerklichen Tischlerfähigkeiten mit dem Einsatz von kleineren und größeren Maschinen. Der Kurs beinhaltet Theorie, ist aber vor allem praktisch orientiert. Unsere Teilnehmer (bisher sind es ausschließlich Männer und Jungs) lernen beim Bau von konkreten Möbelstücken, etwa Medizinschränkchen, Nachttische oder ein Tablett. Wir versuchen, die Fantasie und Kreativität der Teilnehmer zu fördern, indem sie ihre Stücke individuell gestalten können.

Vier Kurse mit insgesamt 30 Auszubildenden haben wir aktuell. Jeder Kurs kommt dreimal die Woche für je drei Stunden in unsere Lehrwerkstatt. Geleitet werden die Kurse von unserem syrischen Ausbilder Mohammed Abdullah Fayad, genannt Abu Qasim, und einer deutschen Tischlerin oder einem deutschen Tischler, die oder der einen dreimonatigen Freiwilligeneinsatz leisten. So werden Ideen und Techniken aus verschiedenen Kulturkreisen kombiniert.

Einer der Kurse hat nun fast zwölf Monate Lehrzeit hinter sich. Zuletzt haben die Teilnehmer an einer Babywiege gearbeitet, bei der alle ihr eigenes Design umsetzen konnten. Hier wendeten sie ihr neues Wissen über Zapfen- und Gratverbindungen an und arbeiteten mit Fräsmaschinen oder dem Langlochbohrer. Zum Abschluss ihrer Ausbildung werden sie nun in den nächsten zwei Monaten an einer Art Gesellenstück bauen. Die Kursteilnehmer sollen ihr eigenes Möbelstück konzipieren, bei dem sie die im Kurs erlernten Techniken anwenden.

Auch wenn unsere Kurse viele Fähigkeiten vermitteln, schließen sie mit keiner offiziellen oder staatlich anerkannten Prüfung ab, so wie es in Deutschland üblich ist. Wir stellen allen Teilnehmenden am Ende ein Zeugnis aus, das sie hoffentlich in der Zukunft als Referenz nutzen können. Ihre größte Referenz ist aber wohl tatsächlich das, was sie handwerklich gelernt haben.

Auch können wir den Teilnehmern natürlich keine feste Beschäftigung im Anschluss verschaffen. Dennoch bietet der Kurs ein Rüstzeug, mit dem sie auf dem Arbeitsmarkt heute oder in Zukunft bessere Möglichkeiten haben – im Libanon ebenso wie in Syrien.

Erste Schritte in die Selbstständigkeit

Um die Selbstständigkeit unserer Auszubildenden und Absolventen zu fördern und ihnen einen Ort zum eigenständigen Arbeiten zu geben, haben wir vor einigen Wochen eine zweite Werkstatt eröffnet. Sie soll wie eine Kollektivwerkstatt funktionieren. Sie steht allen, die unsere Kurse mitgemacht haben, offen und ist mit Werkzeugen und Maschinen ausgestattet. Hier können die Teilnehmer und Ex-Teilnehmer auf eigene Faust werkeln – für Kund:innen oder für den eigenen Bedarf.

Ein von uns angestellter Werkstattleiter steht unterstützend zur Seite, pflegt das Werkzeug und achtet auf die sichere Handhabung der Maschinen. Das Baumaterial müssen sich die Nutzer aber selbst organisieren. Mit diesem Angebot möchten wir unseren Teilnehmern und Absolventen einen Raum bieten, um das Erlernte dauerhaft anwenden zu können und vielleicht erste Schritte in die Selbstständigkeit zu unternehmen.

Die freudigen Gesichter unserer Teilnehmer, wenn sie ihr Möbelstück fertig haben und der große Zuspruch bestärken uns darin, mit diesem Projekt nachhaltige Zukunftschancen zu eröffnen. Und wie hieß es so schön für lange Zeit in Deutschland: Das Handwerk hat goldenen Boden.

Simon Bethlehem

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