Wie kann im 21. Jahrhundert ein Volk seinen Staat verlieren?

Das ist eine der geheimnisvollsten menschheitsgeschichtlichen Fragen: wie kommt es, dass es jetzt 194 Staaten in der UNO gibt und nicht 295 oder 350? Und wie kommt es, dass es jetzt 54 Staaten/und Völker auf dem afrikanischen Kontinent gibt? Und wie kommt es, dass die Eriträer es schaffen, sich einen Staat für ihr eigenes Volk aus den Rippen des altehrwürdigen Abessinien zu schneiden – die Polisario in der Westsahara gegen Marokko aber nicht? Weshalb haben es die Süd-Sudanesen geschafft. Ihren Staat zu bekommen, wo sie doch noch kein Staatsvolk, sondern aufgeteilt gegeneinander in Dinka, Nuer, Shilluk sind? Wie wird ein Volk zu einem Volk und dann noch zu einer Nation und dann noch zu einer Nation, die einem Staat die nationale Ausrichtung gibt? Wieso sind die Deutschen und die Österreicher es geworden: Staatsnationen, aber nicht die Bayern, die Schwaben, die Franken, die Sachsen? Und wieso haben es die Türken geschafft und die Armenier im Besitz eines Staates zu sein, die Kurden aber nicht?

Diese bis heute spannenden und geheimnisvollen Fragen werden aktuell noch einmal überboten von einer ganz neuen Frage, die uns über das Land Somalia und die Somalis gestellt wird. Hier gab es schon eine internationale Verständigung, sogar eine allsomalische Bewegung, die darin mündete, dass es im Jahre 1960 zwei somalische Ex-Kolonien gab, die sich dann aber ganz schnell und sogar zu einem panislamischen Somalia zusammenschlossen! Das war am Horn von Afrika, einer der geophysikalisch eindrucksvollsten Küstenländer der Erde: das ex-italienische Somalia mit der Hauptstadt Mogadischu und im Norden die ex-britische Republik Somaliland mit der Hauptstadt Hargeysa.

Die Demokratische Republik Somalia wurde jedenfalls am 1. 7. 1960 durch den ausdrücklichen Zusammenschluss des britischen Protektorats Somaliland und des ehemaligen UN-Treuhandgebietes Somalia gegründet. Das Land füllt die geographische Nase am Horn von Afrika voll aus, mit einer Gesamtfläche von 637.657 qkm und einer Küste von 3000 km. Nun haben wir die Völker Afrikas vorsichtig immer erst Stämme genannt. Und bei den Somalis sprach sehr viel dafür, sie erst mal Stämme zu nennen – und Clans.

Man muss sich an die 70 und 80 er des letzten Jahrhunderts zurückerinnern, das war die hohe Zeit des Kalten Krieges. Es standen alle Länder Afrikas unter dem Diktat der Entscheidung: Reihen sie sich in die Länder ein, die dem Westen und der NATO die Gefolgschaft leisten – und dafür was bekommen an Militär- und Entwicklungshilfe? Oder gehen sie mit vielen roten Fahnen gleich in das eine, dann auch noch das zweite Lager über, das die kommunistische Hemisphäre bereitstellt. Auch mit dem Versprechen, etwas dafür zu bekommen.

Somalia machte es ganz schlau: Der Staatsführer entdeckte gleich hintereinander alle Zugpferde, die die damalige Welt aufzubieten hatte. Nachdem er die Sowjetischen Berater aus dem Lande geworfen hatte im November 1977, machte er sich bei den Amerikanern und dem Westen beliebt. Er entdeckte aber auch noch die große sprengende Kraft des Supra-Nationalismus für Somalia. So hatte dieses Somalia eine nationale Flagge mit fünf Sternen auf blauem Grund. Daraus fingerte der bauernschlaue Diktator Siad Barre ein hypernationalistisches Programm, was man zur Erhöhung der Entwicklungshilfe und Waffenlieferungen beibehielt.

Das bisher real existierende Somalia verfügte geographisch bisher nur über zwei der fünf Sterne. Es fehlen zur „Wiedervereinigung aller Somalis“ in einem Staat noch die Somalis aus den drei Regionen, die eine Irredenta der Somalis in drei Richtungen darstellten: Einmal die Somalis in Djibuti, dann die Somalis im äthiopischen Ogaden und an weiteren Orten entlang der äthiopischen Grenze. Und dann noch die Somalis, die im Norden Kenias wohnen. Das gefiel uns Deutschen, die wir ja immer schnell bereit sind, von uns auf andere zu schließen, sehr gut, bedeutete es doch, dass wir mit den Somalis das gleiche politische Problem teilten: Wir Deutschen suchten die Wiedervereinigung, die Somalis ebenso. Da man von einem Somali-Volk sprechen konnte, auch mit einer Sprache und einer Religion, das war klar: Aber die Stämme hatten sich viel stärker gegeneinander unter der Diktatorischen Decke des Regimes von Siad Barre positioniert als wir das wahrhaben wollten und uns die Somalis gesagt haben.

Wir bekamen plötzlich mit, dass nicht die Somalis den Staat beherrschten, sondern die Darood (Süden), die Isaak (im Norden), die Saab. Und dass sich die Darood noch mal aufspalteten in die Dulbahante, die Majerteen, die Warsangali, die Ogadeen, und die Marrehan. Das führte dann dazu, dass nach dem Sturz von Siad Barre 1992 in dieser durch eine Herkunft, Sprache und Religion bestimmten sogenannten Somali-Volk es nicht möglich war, die Hauptstadt Mogadischu von einem Stamm oder Clan regieren zu lassen. Es kann also in einem Land mit einer Sprache, einem Volk, einer Religion sein, dass die Herrschaftsverhältnisse durch die Genealogie der Stämme und der Clans ganz heftig aufgespalten ist.

Das alles wollten Entwicklungspolitiker weder zur Zeit des Kalten Krieges noch danach mitbekommen. Sie machten fröhlich weiter Nation- building und Statebuilding. Als es mit dem Verlust des Staates Somalia begann, machte der damalige deutsche Botschafter Christian Natorp in Kampala /Uganda eine Konferenz mit den vielen Regierungs- und Nicht Regierungsagenturen, die sich in Somalia getummelt hatten. Wir alle stellten uns der Frage: was ist in Somalia geschehen? Ich spürte, dass das den Hilfsagenturen ziemlich egal war. Sie hatten den Staats- und Nationenaufbau vorexerziert, die Somalis wollten nicht mitmachen. Selber schuld. Sollen sie sehen, wo sie bleiben!?

Es gab auch keine Trauerarbeit, denn immerhin hatte uns das Land eine der größten und vielleicht schönsten Leistungen im extremen humanitären Bereich ermöglicht durch die beherzte Aktion unter Leitung des damaligen Staatsministers Hans Jürgen Wischnewski und der GSG 9. Dieser Spezialtruppe gelang etwas, was fast konstituierend für das Selbstbewusstsein des neuen Deutschland wurde: Die Befreiung aller Geiseln des Flugzeuges Lufthansa Landshut im Oktober 1977. Dankbarkeit für die Geiselbefreiung in Mogadischu, war der Slogan unserer neuen Somalia-Politik.