Zwei Gebilde am Horn von Afrika

Somalia erlebten wir Deutschen in den Tagen des Oktober 1977, als in Mallorca ein Flugzeug der Lufthansa die Landshut mit 86 Passagieren und fünf Besatzungsmitgliedern auf dem Flug von Mallorca nach Frankfurt von arabischen Terroristen entführt wurde. Diese Maschine hatte mehrere Stopps, kam dann aber nach Mogadischu. Dorthin hatte die deutsche Bundesregierung den fähigsten Politiker für solche ausweglosen Situationen geschickt, der uns heute auch wieder fehlt: Hans Jürgen Wischnewski. Der erreichte es, den somalischen Präsidenten Siad Barre zu überzeugen, dass auf somalischem Staatsgebiet und Flughafen die deutsche GSG 9 das Flugzeug stürmte und alle Geiseln befreit wurden.

Ben Wisch, wie wir ihn kannten, hat die dramatische Szene in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 beschrieben: Um 23.15 ging die GSG 9 in Bereitstellung. Vor dem Flugzeug wurde ein Feuer abgebrannt, um die Aufmerksamkeit der Terroristen darauf zu locken. Um 02.07 Uhr begann die Aktion, um 2.12 Uhr meldete die Sturmtruppe das Ende der Operation. Alle Geiseln waren gerettet. Sie hatten 108 Stunden das Flugzeug nicht verlassen, 108 Stunden Todesangst.

Das brachte Regierung und Gesellschaft in Deutschland ein lang anhaltendes Gefühl von großer Dankbarkeit gegenüber dem Land Somalia. Wir wurden unkritisch und lieferten auch Waffen. Die Spannungen innerhalb des Landes wollten wir nicht wahrnehmen. Nachdem es zum Ende des Kalten Krieges gekommen war, musste auch Siad Barre die Segel streichen und floh aus seinem Land nach Sambia. In den letzten Monaten seiner Amtszeit hatte Siad Barre noch mit seiner Luftwaffe die Hauptstadt des Nordens Hargeisa bombardiert.

Es gab 1991 gemeinsam mit dem Eingreifen der US-Armee schon einen ersten Ausgriff der Bundeswehr nach Belet Wen in West-Somalia, der aber gleich nach dem überstürzten Abzug der USA beendet wurde. Im Juni 1991 beantragten die Isaq Clans und die Gaddaboursi im Norden Somalias, das Vereinigungsgesetz vom Juni 1960 abzuschaffen und zu kündigen und die Unabhängigkeit auszurufen. Das ehemals britische Somaliland wurde im Januar 1960, das ehemalige italienische Somalia (Hauptstadt Mogadishu) im Juni 1960 unabhängig. Beide Staaten vereinigten sich auf Grund der gemeinsamen Staatsangehörigkeit zu der Republik Somalia am 1. Juli 1960.

Seit dem Juni 1991 gibt es wieder die sich selbst als souverän erklärte Republik Somaliland. Die hat auch einen Anspruch darauf anerkannt zu werden als unabhängiger Staat, denn in der Kairo Deklaration der Organisation afrikanischer Völker wurde als ehernes Gesetz niedergelegt, dass die alten kolonialen Grenzen weiter bestehen müssten. Und zwar allein deshalb, weil sonst auf dem ganzen Kontinent nur noch Chaos ausbrechen würde. Somalialand hat völkerrechtlich mehr gute Gründe als es Eritrea und der Süd-Sudan gehabt haben, sich als eigener Staat zu entwickeln. Der Grund: Somaliland war schon einmal, wenn auch für kurze Zeit, anerkannt.

Seitdem in dem alten Kernland Somalia der Staat verloren ging und nur noch zwischen verschiedenen Armeen und Milizen gekämpft wurde, hat sich Somaliland mit seiner Hauptstadt Hargeisa, zwei Flughäfen und einem Seehafen in Berbera zu einem tüchtigen und auch wirtschaftlich produktiven Gebiet entwickelt. Es führt Wahlen durch. Der erste Präsident des Landes war der Gründungspräsident des vereinigten Somalias, Ibrahim Egal, der im März 1997 noch mal wiedergewählt wurde. Man kann in dem Land mit einer eigenen Airlines hinein- und hinausfliegen, der Daallo Airlines, die Somalis in Djibuti managen. Es gibt drei konkurrierende Handyanbieter. Was fehlt? Die Anerkennung der internationalen Gemeinschaft.

Die Hungerkatastrophe ist deshalb so gewaltig, weil wir die Menschen nicht dort erreichen können, wo sie an Hunger leiden, in Somalia. Deshalb müssen sie, wenn sie das physisch noch schaffen, über die Grenze nach Äthiopien oder Kenya. In Kenya sollen auch schon 400.000 Menschen gestrandet sein – in dem weltweit bekannt gewordenen Kuhdorf Dadaad. Aber Kenya will – und da fängt wieder die Politik an – nicht mehr Somalis aufnehmen. Das Problem liegt in der Staatenlosigkeit der Menschen, sie können nicht mehr zurückgeschickt werden, weil es hinter der Grenze Somalias keine Verwaltung und keinen Staat gibt. Sie sind ausgesetzte Flüchtlinge, englisch: „Refugees on orbit“.

Es gibt hier also nicht nur den Hunger und die technisch-praktischen Fragen, wie man die Nahrungsmittel auf den verschiedenen Wegen und Fahrzeugen dorthin bringt. Es gibt auch das politische Problem, wie kommt ein ganzes Volk wieder zu seinem Staat oder zu seinen zwei Staaten? Und: Wie kommen die Somalis damit wieder in die Weltgemeinschaft?

Fragen über Fragen, die sich anlässlich der Hungersituation mit Macht stellen.