Das Erdbeben in der Türkei und Nordsyrien hat mehr als 43.000 Menschen das Leben gekostet. Auch unser ehemaliger Mitarbeiter Iyad ist mit seiner Frau Adawia und seinem Sohn Mato verstorben. Wir sind in tiefer Trauer.

Von Simon Bethlehem

Iyad in einem glücklichen Moment

Bonn, 19. Februar 2023. Iyads Geschichte ist eine besondere – eine besonders tragische. Vielleicht aber auch wieder gar nicht so besonders, weil vielen Opfern des syrischen Bürgerkriegs so viel Leid erfahren ist: im Krieg, auf der Flucht und auch, als sie sich in Sicherheit wähnten.

Ich kann mich nicht genau daran erinnern, wann ich Iyad zum ersten Mal getroffen habe. Es war im libanesischen Aarsal, wo die Grünhelme seit 2017 arbeiten. Und schon bevor ich Iyad traf, kannte ich seine Geschichte.

Iyads Schwester lebte damals im Camp Wadi Swed, eines der zahllosen syrischen Geflüchtetencamps, das für die Grünhelme mit den Jahren ein zweites Zuhause in Aarsal geworden ist. Hier haben wir nicht nur neue Dächer gebaut, Fenster in die Zelte montiert oder die Elektrik erneuert. Hier haben wir auch Hochzeiten mitgefeiert, Tote betrauert, gemeinsam gegessen, Karten und Schach gespielt, geraucht und tausende Gläschen schwarzen Tee getrunken. Hier haben wir Freunde fürs Leben gefunden, wie unseren Übersetzer Abu Feyrous, den Sie vielleicht aus unserem letzten Jahresbrief kennen.

Iyad verpasste die Abfahrt

Iyad lebte damals in einem anderen Camp und wollte abends noch seine Schwester und ihre Kinder in Wadi Swed besuchen. Da es Winter und schon früh dunkel war und das Licht an Iyads klapprigem Motorrad mal wieder kaputt war, verpasste er die Abzweigung zum Camp und fuhr auf der Straße daran vorbei.

Nicht weit hinter dem Camp aber, am Stadtrand, liegt ein Checkpoint des libanesischen Militärs. Hier wurde Iyad aufgegriffen. Da seine Papiere abgelaufen waren, wurde er direkt einkassiert. Über Monate wusste niemand, wo Iyad war. Telefonieren durfte er nicht, es wurde aber auch keine Anklage erhoben. Iyad blieb fünf Jahre lang inhaftiert, ohne dass es einen ordentlichen Prozess gegeben hätte – der Vorwurf: Terrorismus.

Als Iyad schließlich entlassen wurde, wurde ihm eine Rechnung von 900 US-Dollar präsentiert, für Verpflegung und Unterkunft in der Haft. Dann lernte ich Iyad kennen. Er arbeitete fortan in unserem Bauteam, verlegte Elektrik in den Camps und stattete libanesische Schulen in Aarsal mit neuen Klassenräumen aus. So konnte er seine Schulden nach und nach abbezahlen. Iyad war damals Ende 30 und unverheiratet – für die Syrer in Aarsal damals sehr ungewöhnlich, aber eben durch den Krieg, die Flucht und schließlich seine lange Haft zu erklären. Er erzählte einmal, dass er nun gern eine Familie gründen würde.

Zweite Verhaftung – wieder ohne Anklage oder Prozess

Doch plötzlich wurde Iyad wieder festgenommen. Die Geheimpolizei war in Wadi Swed erschienen und hatte ihn zu ihrer Station gebeten. Als Iyad dort hinging, wurde er festgehalten. Wieder kein Prozess, wieder zwei Jahre Haft, wieder hohe Schulden nach der Haftentlassung. Iyad konnte  danach erneut bei uns arbeiten. Er fand seine Frau Adawia, zog nach Wadi Swed und der Sohn Mato wurde geboren. Das Leben wurde zwar immer härter aufgrund der dramatischen Wirtschaftskrise im Libanon und der damit einhergehenden hohen Inflation, aber zumindest hatte Iyad sein familiäres Glück gefunden.

Flucht nach Afrin

Im Herbst 2022 wurde Iyad ein drittes Mal aufgegriffen. Diesmal wurde er nicht inhaftiert. Das Militär nahm ihm aber seine Dokumente ab und setzte ihn im neutralen Grenzgebiet zwischen dem Libanon und Syrien aus. Ohne Papiere konnte er weder legal nach Syrien einreisen noch zurück in den Libanon. Er kämpfe sich also illegal durch die Berge zurück nach Aarsal und fasste den Entschluss, das Land zu verlassen.

Die ständigen Schikanen durch Militär und Geheimpolizei waren für ihn der ausschlaggebende Punkt. Er bezahlte einen Schleuser, um mit seiner Familie nach Syrien einreisen zu können, und nach Afrin zu gelangen, ein türkisch kontrolliertes Gebiet außerhalb des Zugriffs von Assad. Hier hatte Iyad Verwandte und Bekannte aus seiner Heimat Homs, die hierher geflohen waren.

Doch Iyads Neubeginn endete abrupt. Das schwere Erdbeben am 6. Februar verschüttete ihn und seine Familie unter den Trümmern eines Hauses. Wir trauern um Iyad, den wir als liebenswerten und gutherzigen Menschen kennengelernt haben und der darüber hinaus ein toller Mitarbeiter war. Unser tiefes Mitgefühl gilt seiner Familie und allen, die ihn nun ebenfalls betrauern.

Sein Schicksal ist kein Einzelfall

Iyads Geschichte zeigt, dass hinter den hohen Todeszahlen bei der Erdbeben-Katastrophe dramatische Schicksale stehen. Es sind Schicksale von Menschen, die seit zehn Jahren Krieg erlebt hatten, teilweise mehrfach geflohen waren. Sie suchten Sicherheit vor menschlicher Gewalt und sind nun einer Naturkatastrophe zum Opfer gefallen. Auch die vielen Überlebenden und Angehörigen sind nach Krieg und Flucht nun erneut mit Schmerz und Verlust konfrontiert. Ihr seelisches Leid vermag kaum jemand nachzuempfinden.

Jetzt für die Erdbebenopfer in Nordwestsyrien spenden!

IBAN: DE62 4306 0967 0001 0700 00
BIC: GENODEM1GLS (GLS Gemeinschaftsbank eG)

Stichwort: Erdbebenhilfe

>> Online spenden

Nothilfe für Nordwestsyrien