Der Senegal erlebt derzeit schwere Unruhen. Mindestens 20 Menschen sollen schon ums Leben gekommen sein. Grünhelm-Projektleiter Henrik Sauer berichtet aus Ziguinchor.

Unser Team in Ziguinchor

Von Henrik Sauer

Ziguinchor, 10. Juni 2023 Acht Monate vor der nächsten Präsidentschaftswahl im Februar nächsten Jahres ist der letzte Oppositionspolitiker im Senegal, der ernsthaft Chancen auf einen Wahlsieg hat, Ousmane Sonko, zu zwei Jahren Haft verurteilt worden. Dadurch hat er die Berechtigung verloren, sich nächstes Jahr zur Wahl zu stellen. Sonko ist Bürgermeister von Ziguinchor, jener Stadt im Süden Senegals, in der wir unser Kfz-Mechaniker-Ausbildungsprojekt aufgebaut haben.

Mit der Verurteilung Sonkos kam es zu großen, sehr gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Protestierenden und Polizei, vor allem in der Hauptstadt Dakar, aber besonders auch hier in Ziguinchor. Überall wurden brennende Straßensperren errichtet, Autos verbrannt und Steine geschleudert, öffentliche, aber auch private Einrichtungen angegriffen.

Die Polizei reagierte mit großem Aufgebot und massivem Tränengaseinsatz. Nach Medienangaben wurden in den wenigen Tagen mindestens 20 Menschen getötet, weit über 500 zum Teil schwer verletzt, mehrere Hundert Menschen wurden verhaftet. Im Viertel Lyndiane, hinter unserer Werkstatt, soll ein Junge von der Polizei erschossen worden sein.

Alle sogenannten sozialen Medien sind seit dem ersten Juni geblockt, öffentlicher Transport innerhalb des Landes verboten oder gestoppt, für einige wichtige Verbindungsstraßen gibt es zeitliche Nutzungsbeschränkungen. Alle öffentlichen Schulen und Universitäten sind geschlossen, sowie alle größeren Geschäfte.

Arbeit in der Werkstatt derzeit gestoppt

Das heißt für uns und unser Projekt, dass wir Werkstatt und Schule vorübergehend schließen mussten. Für alle unsere Mitarbeiter ist der Weg zur Arbeit viel zu gefährlich, weder Kunden noch Auszubildende können uns erreichen und Ersatzteile können wir natürlich auch nicht besorgen. Eigentlich kann man sich auf den Straßen nur morgens zwischen 7 und höchstens 10 Uhr bewegen. Danach ist es gespenstig ruhig, nur unterbrochen vom „Boum, Boum“ der Tränengasgranaten. Natürlich hofft man immer, dass es wirklich nur diese sind.

Da viele Protestierende eine starke Einflussnahme Frankreichs auf die senegalesische Politik und Wirtschaft sehen und verurteilen, und man leider leicht, als Fremder und mit entsprechender Hautfarbe, in der allgemeinen Aufregung als „einer von denen“ gehalten wird, kann ich mich auch nur sehr eingeschränkt bewegen. Insgesamt bleiben die meisten Menschen, zumindest hier in Ziguinchor, den größten Teil des Tages zu Hause.

Stolz auf sein Team: Henrik Sauer mit den Kfz-Fachleuten aus unserer Werkstatt

Unser Team ist hoch motiviert

Allerdings hat mich in der gesamten Dramatik sehr gefreut, dass das gesamte Team freiwillig, trotz aller Gefährdungen und Schwierigkeiten, pünktlich zur Arbeit erschienen ist. Und jeder ist bereit, sobald es möglich ist, Arbeit und Ausbildung sofort wieder fortzusetzen.

Doch wer ist Sonko und was sind die Hintergründe der Krawalle? Der Oppositionspolitiker Ousmane Sonko hat seine Anhängerschaft vor allem bei jüngeren Wählern und Menschen, die in finanziell schwierigeren Verhältnissen leben. Der Prozess gegen ihn zog sich über zwei Jahre. Die Vorwürfe gegen ihn wiegen schwer: Eine Frau warf ihm laut Medienberichten mehrfache Vergewaltigung vor. Sonko wurde von diesem Verdacht freigesprochen, auch von dem Verdacht, mehrfache Todesdrohungen gegen die Anklägerin ausgesprochen zu haben. Doch es kam nach Berichten zu einem Urteil wegen „Verführung der Jugend“. Die Anklägerin war zu dem Zeitpunkt 20 Jahre alt. Den genauen Wortlaut des Urteils scheinen selbst die Anwälte Sonkos nicht zu erfahren.

Schon die Anklage vor zwei Jahren führte zu einer großen Spaltung und starken Spannungen im Land. Sonko selbst hält Anklage und Urteil für politisch beeinflusst.  Auch unter senegalesischen Rechtsgelehrten ist das Urteil stark umstritten. Ebenso umstritten ist auch die Tatsache, dass der amtierende Präsident, Macky Sall, angekündigt hat, sich 2024 zu einer dritten Amtszeit zur Wahl zu stellen, obwohl das laut Meinung vieler Menschen gegen die senegalesische Verfassung verstößt.

Manche Beobachter fürchten bereits, dass der Senegal im Zuge der Wahlen nächstes Jahr politisch noch weiter destabilisiert werden könnte. Denn auch wenn oft von einem stabilen Senegal zu lesen ist: Der Unmut der Bevölkerung hat schon weit vor der Anklage gegen Herrn Sonko vor zwei Jahren begonnen, als immer mehr Oppositionspolitiker mundtot gemacht oder unter allen möglichen Vorwürfen verhaftet wurden und immer noch werden. Größere Ausschreitungen gab es dann 2021 mit der Anklage, die unter anscheinend recht dubiosen Umständen zu Stande kam. Seitdem brodelt es im Land. Wobei eigentlich nur die größeren Städte zählen, Dakar und Ziguinchor an erster Stelle.

Gewaltbereitschaft scheint hoch

Wie es weitergeht? Schwer vorherzusagen. Da sich noch keine politische Lösung abzeichnet, und nur eine solche, getroffen im Einvernehmen beider Seiten, könnte eine wirklich konstruktive sein, bleibt die Lage schwierig und unvorhersehbar. Die Gewaltbereitschaft scheint weiter auf beiden Seiten ungehindert zu bestehen.

Mittlerweile ist es aber etwas ruhiger, die Leute fangen an, die Barrikaden zur Seite zu räumen, mehr Verkehr ist auf den Straßen zu sehen. Der Flughafen in Cap Skirring ist wieder geöffnet, Donnerstagnachmittag gab es dann auch wieder WhatsApp. Allerdings konnte man mehrmals Schüsse hören. Freitagmorgen gegen 06:30 gab es an mindestens zwei verschiedenen Orten Gewehrfeuer. Einzelne Schüsse und Salven. Viele Leute haben das gehört, aber keiner konnte das bis jetzt einordnen. Auch wurden wieder Tränengasgranaten verschossen.

Angeblich sollen Montag die Schulen wieder öffnen. Manche Leute sagen, dass es vielleicht bis Tabaski, dem großen, mehrtägigen muslimischen Fest Ende des Monats, ruhiger bleibt. Was danach kommt, kann sich keiner ausmalen. Irgendwann muss es eine Entscheidung mit Sonko geben: Entweder Revision des Gerichtsurteils – sehr unwahrscheinlich – oder Überführung ins Gefängnis. Und das werden seine Anhänger nicht so einfach hinnehmen.

Und irgendwann muss sich der Präsident auch festlegen, ob er sich erneut zur Wahl stellt. Das wären sehr entscheidende Zeitpunkte.

Ich finde es erstaunlich, wie spät und wie wenig ich in den internationalen Medien über die Situation im Senegal gefunden habe. Auch wie zaghaft diese Medien sind, die Vorkommnisse politisch genau zu benennen und zu beurteilen. Obwohl es viele europäische Institutionen, politische, wie wirtschaftliche, im Lande gibt, die seit vielen Jahren hier tätig sind. Sie müssten Hintergründe und aktuelle Lage doch beurteilen können.