Im Jahr 2017 haben die Grünhelme im Nordirak eine Schule gebaut. Nach Jahren des politischen Gezerres konnte dort nun das erste Schuljahr unterrichtet werden.

Von Simon Bethlehem

Bonn, 10. Juli 2022 – Fast acht Jahre ist es nun her, dass der selbsternannte Islamische Staat am 3. August 2014 das Shingal-Gebirge (Sinjar) im Nordirak überfiel. Es war ein Völkermord an der jesidischen Bevölkerung, wie eine Kommission der Vereinten Nationen im Juni 2016 feststellte: Mehr als 5.000 Menschen waren ermordet,5000 bis 7000 Frauen und Mädchen entführt und versklavt worden. Etwa 400.000 Jesid*innen gelang die Flucht ins kurdische Autonomiegebiet im Nordirak, während sich jesidische Selbstverteidigungseinheiten bildeten und unter den schwersten humanitären Bedingungen den Widerstand aus den Bergen leisteten.

Die jesidischen Selbstverteidigungseinheiten, unterstützt von Kämpfern der türkisch-kurdischen Arbeiterpartei PKK, der syrisch-kurdischen YPG und den irakisch-kurdischen Peshmerga konnten den Teil nördlich der Berge des Shingal rasch befreien, die Rückeroberung der Stadt Shingal auf der Südseite des Gebirges dauerte hingegen bis zum November 2015. Die unzähligen Sprengfallen des IS und die Bombardements der zur Befreiung eingesetzten US-Luftwaffe haben große Teile der Stadt zerstört.

Schule für rund 200 Kinder

Die Grünhelme kamen erstmals im Winter 2014/15 nach Shingal. Bereits kurz nach dem Genozid und der einsetzenden Fluchtbewegung in die Autonome Region Kurdistan im Nordirak hatten wir durch Unterstützung der Kurdischen Gemeinde Deutschland und der Kurdischen Gemeinschaft Rhein-Sieg unsere Arbeit in den provisorischen Geflüchtetencamps in den Regionen Zakho und Dohuk aufgenommen. Im Dezember organisierten wir dann als erste internationale Organisation auch Hilfslieferungen ins Shingal, während der südliche Teil der Berge noch schwer umkämpft war.

Unser eigentliches Ziel, der Wiederaufbau, konnte zum Jahresende 2016 starten. Wir hatten bereits nordwestlich von Mosul, in der ebenfalls vom IS besetzten Region Zummar, eine Schule gebaut und somit Erfahrung in der Region. Als es die Sicherheitssituation im Shingal zuließ, sind wir auch im kleinen Ort Gerke Hasare, auf der nördlichen Seite der Berge, tätig geworden. Dort bauten wir gemeinsam mit zurückgekehrten Bewohnern eine kurdische Grunds- und weiterführende Schule für rund 200 Kinder und Jugendliche.

Unabhängigkeitsreferendum veränderte Zuständigkeiten

Als sie im September 2017 fertiggestellt wurde, waren wir noch frohen Mutes, denn 120 Kinder hatten sich bereits für den Unterricht angemeldet, im Oktober sollte der Unterricht beginnen. Dann überschlugen sich die politischen Ereignisse allerdings abermals, dieses Mal jedoch nicht aufgrund von Krieg und Völkermord, sondern wegen eines lange währenden Konfliktes: der über eine Unabhängigkeit der Region Kurdistan von der irakischen Zentralregierung. Die Regierung der Autonomen Region Kurdistan im Irak hatte ein Unabhängigkeitsreferendum angestrengt, das am 25. September stattfand und bei dem sich – laut kurdischer Verwaltung – eine überwältigende Mehrheit der Menschen für eine Unabhängigkeit vom Irak ausgesprochen haben soll. Die irakische Zentralregierung verstand das Abhalten des Referendums als Angriff auf die gesamtstaatliche Integrität.

In der Folge eignete sich die Zentralregierung einige der vormals kurdisch kontrollierten und in der Verfassung umstrittenen Gebiete an – darunter auch die Region Shingal. Die Gebiete standen nun nicht mehr unter der Kontrolle der kurdischen Autonomieregierung. Die jesidische Bevölkerung saß wieder zwischen allen Stühlen und ist bis heute Spielball regionaler Interessen.

Für die Schule in Gerke Hasare bedeutete der Macht- und Verwaltungswechsel nichts Gutes. Wir Grünhelme hatten die Schule mit den kurdischen Behörden geplant und alle entsprechenden Vereinbarungen und Absprachen waren nun hinfällig: Die Behörden der Zentralregierung zeigten kein Interesse an der Schule und die kurdische Schulbehörde, die zwar weiter bestehende Schulen in der Region betrieb, durfte keine neuen Schulen ausweisen. Die kurz vor ihrer Eröffnung stehende Grund- und weiterführende Sschule in Gerke Hasare blieb trotz zahlloser Versuche und Gespräche im frustrierenden Warte- und Schwebezustand. Obendrein verwehrte uns die irakische Zentralregierung den Zugang zur Region, da sie uns als Partnerin der Kurdischen Autonomieregierung betrachtete.

Regierung gewährte uns 2021 wieder Zugang

Ende des vergangenen Jahres starten wir nach einigen Jahren Pause nun einen erneuten Anlauf. Und tatsächlich: Die Zentralregierung gewährte uns wieder Zugang und auch die kurdische Schulbehörde konnte nun endlich die Eröffnung auf den Weg bringen! Endlich.

So starteten im November 2021 die ersten Klassen, zunächst mit einer reduzierten Zahl von etwa 90 Schüler*innen und finanzieller Unterstützung der Grünhelme. Schnell zeigte sich, dass die Schule für die Menschen des Dorfes gleich einen Unterschied macht: Keine weiten Wege mehr ins entfernte Sinuni, wo die Kinder bisher die aus allen Nähten platzende Schule besucht hatten. Stattdessen nun kleine Lerngruppen mit gut ausgebildetem Lehrpersonal. Die Schule ist derzeit vorgesehen für die Klassenstufen von 1 bis 9. Für jeden Jahrgang gibt es eine Klasse, insgesamt ist die Schule auf rund 200 Kinder ausgelegt. Im Mai 2022 konnten nun die ersten Jugendlichen ihren Abschluss an der Schule in Gerke Hasare ablegen.

Die Schule in Gerke Hasare war über viele Jahre unser Sorgenkind. Denn es ärgerte uns, dass es nicht voranging! Für uns war das oft zermürbend, frustrierend und vor allem unverständlich. Viele Spenderinnen und Spender haben uns ihr Vertrauen geschenkt, acht freiwillige deutsche Handwerker*innen haben in Zusammenarbeit mit den Locals über zehn Monate hinweg viel Arbeit in das Gebäude gesteckt. Vor allem aber sollte die Schule für die Menschen in und um Gerke Hasare ein Symbol des Aufbruchs sein – für eine bessere Zukunft nach der für sie so unbeschreibbar schweren Zeit.

Am Ende nun ist dieses Zeichen – endlich – da. Es hat viel Geduld und unzählige Gespräche gekostet, aber es ist vollbracht. Die Hartnäckigkeit hat sich ausgezahlt.

Zum neuen Schuljahr, das im September startet, wird die Schule vollständig in die Hände der Schulbehörde übergehen. Die Stiftung der Friedensnobelpreisträgerin Nadja Murad hat überdies zugesagt, neues Mobiliar zur Verfügung zu stellen.

Vielen Dank an alle Beteiligten, die an dieser Schule mitgebaut und sie durch ihre Spende getragen haben. Bildung ist und bleibt die Zukunft, auch in dieser politisch so brisanten Gegend. Und eben deshalb laufen die Vorbereitungen für ein neues Schulbauprojekt im Shingal auf Hochtouren.